Themenfreitag: Differenzierung
- Lernfrosch
- 27. Aug. 2021
- 5 Min. Lesezeit

Jede Schulklasse ist heterogen. Homogene Gruppen wären zwar sehr angenehm, nicht mit viel Arbeitsaufwand verbunden und unkompliziert, allerdings ist dieser Gedanke weit weg der Realtität.
Die erste Klasse, die ich als Klassenlehrerin 4 Jahre lang begleiten durfte, war das Paradebeispiel für Heterogenität:
mehrere Vorschulkinder, die integrativ geführt wurden, ein Kind mit Depressionen, ein entwicklungsverzögerter Autist, ein Kind mit selektiven Mutismus, zwei geistig beeinträchtigte Kinder, zwei Kinder mit Lernschwierigkeiten und Sonderschullehrplan, sowie zwei Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten (nicht diagnostiziert). Diese kunterbunte Mischung durfte ich in meinem 3. Dienstjahr übernehmen und verzweifelte fast an der Mischung so vieler Lehrpläne und Leistungsunterschiede. Auch zwei Kinder, die in einigen Unterrichtsfächern bereits in der nächsten Schulstufe mitmachen hätten können, waren mit dabei. Ich stellte mir nach und nach folgende Fragen:
Wie bringe ich das alles unter einen Hut?
Wie kann ich die Kinder so fördern, dass sie Fortschritte machen, egal auf welchem Level?
Wie kann ich die leistungsstarken Kindern fordern?
Wie schaffe ich das alles, ohne ein Burnout zu bekommen und/oder 100 Stunden in der Woche zu arbeiten?
Abholen, wo man steht
Die Vorgaben sind ja ganz klar: Hol die Kinder ab, da wo sie stehen! Ist logisch. Ich kann das schriftliche Dividieren nicht erarbeiten, wenn die Malreihen noch nicht sitzen. Also schon... ich kann es erarbeiten, weil es im Lehrplan steht und ich es zu diesem Zeitpunkt im Jahr so eingeplant habe, aber es wird wenig sinnvoll sein.
Die Vorgabe der Regierung ist aber auch folgende: Differenzieren - JA! UNBEDINGT! Schule im Aufbruch! - allerdings genauso: Bei der Zentralmatura, bei IKM Testungen und BIldungsstandards müsst ihr alle gleich sein! Auch bei Schularbeiten darf eigentlich nicht differenziert werden.
Ja, danke für nichts.
Frontalunterricht
MIt meiner damaligen Klasse merkte ich schnell, dass ich mit dem Frontalunterricht nur einen winzigen Teil der Klasse wirklich erreichen kann. Die Arbeit war wenig effizient. Viel Vorbereitung, viele Überlegungen, wenig Effekt.
Die schwachen Kinder waren sehr passiv. Sie wurden immer ruhiger, ließen sich berieseln und malten die Ergebnisse von der Tafel ab. Mitarbeit war kaum vorhanden und selbstständiges Denken war eine Wunschvorstellung meinerseits. Sobald diese Kinder alleine etwas ausarbeiten sollten, wurde daraus eine Abschreibübung vom Nachbarn oder alles war falsch.
Die starken Kinder waren gelangweilt. Sie mussten sich die Unterrichtsstunden mit der 15. Erklärung der Insätzchen anhören, obwohl sie die ganze Buchseite bereits in 6 Minuten ausgerechnet hatten, einfach weil ich keine Zeit hatte ihnen auch noch andere Materialien vorzubereiten. Materialsuche, drucken, laminieren,... das alles nur für zwei oder drei Kinder, das war einfach zu viel Aufwand! Besonders diese Kinder tendieren allerdings stark dazu, dann den Unterricht zu stören, obwohl sie die Zeit und meist auch die Lust hätten, viel anspruchsvollere Themen zu bearbeiten.
In der ersten Klasse bekam ich noch alles ganz gut unter einen Hut. Durch die Buchstabentage war ohnehin alles recht offen, so konnten die schnellen Kinder, den langsamen helfen.
Am Anfang der zweiten Klasse verzweifelte ich regelrecht und wollte Veränderung. Ich wollte mit möglichst wenig Aufwand alle Kinder mit allen Lehrplänen/Leistungsstufen erreichen und fördern. Ich musste mir Zeit im Unterricht verschaffen, um mit den schwachen Kindern zu arbeiten. Die schnellen und starken Kinder, musste ich fordern und die Motivation aufrecht erhalten. Ich wollte so gut wie möglich differenzieren, aber dennoch nicht zu sehr vom Lehrplan abweichen, damit wir bei den Schularbeiten dann nicht Probleme bekommen würden. Ich arbeitete viel in Freiarbeitswochen, bis ich die Lernwerkstatt entwickelte, die all meine Wünsche (und auch die der Kinder) berücksichtigen konnte.
Freiarbeit
Freiarbeit, Lernwerkstatt, Lernbüro,... All das sind Begriffe, die viele Lehrer abschrecken, da sie nach viel Arbeit, wenig Übersicht, viel Planung, wenig Grenzen, wenig klare Strukturen und Chaos klingen. So ist es aber nicht!
Ich habe meinen Weg für mich und meine Klassen gefunden - die Lernwerkstatt. Durch die Lernwerkstatt habe ich die Möglichkeit, auf schwache Kinder einzugehen, sie zu fördern, mir Zeit für sie zu nehmen und ihnen im Unterricht die Möglichkeit zu geben, alten Stoff zu wiederholen. Sie müssen nicht zwangsläufig daran arbeiten, was die anderen machen. Allerdings bereiten sie sich ebenso auf dieses jeweilige Thema vor, aber eben mit mehr Hilfestellungen und mehr Erklärungen.
Die leistungsstarken Kinder können während der vierten Erklärung für die schwächeren Kinder schon lange an den Stationen arbeiten, müssen so keine Rücksicht nehmen und Stunden absitzen und sich langweilen. Die Zeit wird effektiv genutzt.
Aber wie?
Schwierigkeitsstufen:
Viele Stationen bieten sich dazu an, sie in zwei oder mehr Schwierigkeitsstufen zu gliedern. Das beste Beispiel ist ein anderer Zahlenraum. Biete ich ein Lernspiel für die Klasse im ZR1000 an, kann ich das Spiel auch im ZR 100 und 10000 vorbereiten. Mit gewissen Motivationen, kann ich die Kinder animieren, auch die kniffligen Aufgaben zu lösen. In Deutsch kann ich beispielsweise eine Personengeschichte als Station einbauen. Manche Kinder bekommen einen Lückentext, andere nur HIlfswörter und die mutigen Kinder dürfen diese ganz frei schreiben. Wie ich das genau handhabe und noch mehr Beispiele dafür, erzähle ich in meinen Onlineworkshops, die 2x pro Monat stattfinden. Anmelden kannst du dich hier!
Selbstwertgefühl
Im Forntalunterricht bekommen die schwachen Kinder sehr oft negative Gefühle vermittelt: Du hast es wieder nicht geschafft! Du bist so langsam! Die anderen sind schon lange damit fertig! Die Frau Lehrerin muss es nochmal erklären - deinetwegen!
Meist melden sich die Kinder gar nicht mehr und geben nicht zu, dass sie die Erklärungen nicht verstanden haben. Ansonsten würden einige MItschüler wieder lachen, die Augen rollen oder sogar die Lehrerin genervt schnaufen, weil die ganze Klasse wieder warten muss.
In der Lernwerkstatt kann man Erklärungen für die kleine Gruppe an Kindern wiederholen, die es noch nicht verstanden haben. Die anderen Mitschüler bekommen davon meist gar nichts mit, weil sie in die Arbeit vertieft sind - es arbeitet ja ohnhin jeder an etwas anderem. Der Mut wird also größer, auch mal zuzugeben, dass man eine erneute Erklärung benötigt.
Durch differenzierte Aufgaben kann man das Selbstwertgefühl stark steigern. Die Kinder haben auch Erfolgserlebnisse, weil nicht mit Rotstift alles durchgestrichen wurde.
Auch Kinder mit anderen Lehrplänen können super eingebunden werden. Sie bekommen auch eine Lernwerkstatt mit anderen oder differenzierten Aufgaben. Es arbeitet ohnehin jeder an einer anderen Aufgabe, so fällt der Leistungsunterschied nicht auf.
Zusätzlich haben die Kinder in der Freiarbeit keinen direkten Vergleich. Im Frontalunterricht gibt es immer die Kinder, die noch nicht die Hälfte gerechnet haben, während andere schon vier Aufgaben weiter sind. Auch das nagt stark am Selbstwertgefühl!
Elternarbeit/Benotung
Die Eltern müssen bei Leistungsauffälligkeiten natürlich informiert werden. Das ist ganz wichtig. Wenn das Kind das ganze Jahr über einige Dinge im Heft ganz korrekt ausrechnet und am Ende einen 4er im Zeugnis hat, passt das vorne und hinten nicht zusammen. Wenn man also differenziert - da rede ich jetzt nicht von einem einmaligen Ereignis, sondern durchs gesamte Schuljahr - muss man das natürlich abklären und kommunizieren. Ich bespreche in dem Fall gerne, dass ich den Weg versuche, mit dem Kind vergangenene Themen aufzuarbeiten, es muss aber natürlich trotzdem auch irgendwann die Dinge aus dem Lehrplan beherrschen, die die anderen Kinder auch machen. Der Weg dahin ist einfach ein anderer. Hierfür setzt man sich beispielsweise einen gewissen Beobachtungszeitraum und setzt einen Elterntermin danach an. Dabei kann besprochen werden: Hat die Differenzierung geholfen? Kann das Kind besser im Lernstoff mitmachen? Haben sich deutliche Lücken aufgezeigt, die ohne Differenzierung gar nicht bemerkt worden wären (zB.: zählendes Rechnen)?
Wichtig sind hier natürlich auch Lernzielkontrollen. Die sollten diese Kinder schon ganz normal mitmachen, da sie Grundlage für die Benotung sind. Ich würde allerdings bei Auffälligkeiten den Eltern alternativ ein zweites "Lernziel" Heft anbieten. Hier kann das Kind zusätzlich zu den Klassenüberprüfungen auch zeigen, was es selbst in den letzten Wochen gelernt hat - Stichwort SELBSTWERTGEFÜHL!
Bedenkt aber bitte immer: Differenzierung ist super - in gewissen Maßen! Wenn die Unterschiede zum vorgegebenen Lehrplan erheblich sind, leitet weitere Schritte ein: Schulpsychologin, Beratungslehrerin, Elternarbeit, Förderstunden, Austestungen für LRS oder RS, gegebenenfalls Lehrplanänderung!
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